Sehr geehrte Damen und Herren,
am 8. Mai diesen Jahres jährte sich zum fünften Mal der Todestag
des Bildhauers Waldemar Otto, einem bedeutenden Vertreter der
figurativen Bildhauerei in Deutschland in der zweiten Hälfte des
20. Jahrhunderts, die er wesentlich mitgeprägt har, als
Künstler, als Lehrer sowie als Initiator und Organisator des
Bremer Bildhauerpreises mit den Ausstellungen auf dem Wall.
Waldemar Otto zur Finissage seiner
Ausstellung im stilwerk zu seinem 90. Geburtstag 2019 –
wahrscheinlich sein letzter öffentlicher Auftritt
Geboren ist Waldemar Otto am 30. März 1929 in Pettikau, heute
Polen. 1945 floh die Familie Otto nach Halle an der Saale. Nach
dem Abitur begann Otto ein Studium der Bildhauerei an der
Hochschule für Bildende Künste in Berlin-Charlottenburg bei
Alexander Gonda. Zu gleicher Zeit lehrten an dieser Hochschule
auch Richard Scheibe, Gustav Seitz und Waldemar Grzimek. 1955
begann seine freischaffende Tätigkeit in Berlin.
Nach einer kurzen Zeit als wissenschaftlicher Angestellter an
der Architekturfakultät der Technischen Universität in
Braunschweig erhielt Waldemar Otto 1973 einen Ruf als Professor
an die Hochschule für Künste in Bremen. 1976 ließ er sich in
Worpswede nieder.
Soweit einige wichtige Daten aus der Vita von Waldemar Otto.

Die Schaukel, 1963, Bronze, Höhe: 67 cm
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1966 schuf Waldemar Otto die Plastik „Eva II“, die von
Eberhard Rothers, dem Gründungsdirektor der Berlinischen
Galerie, als Schlüssel zum Gesamtwerk Waldemar Ottos
bezeichnet wurde. Diese Eva ist zum Zeichen für die
endgültige Verbannung geworden, ein Zurück gibt es nicht
mehr.
Die Schaukel aus der gleichen Zeit thematisiert mit dem
Torso den menschlichen Rest nach Verfolgung und Marter. Die
Entscheidung für den Torso ist hier keine ästhetische mehr,
sie ist ein Schrei.
Mit diesen Plastiken erweckte Otto erstmals großes
öffentliches Interesse, mit ihnen hat er sein Programm
gefunden, plastische Form in Verbindung mit der Figur zu
neuem Inhalt zu vereinen.
Danach arbeitete er in zeitlicher Reihenfolge u. a. an
folgenden Werkgruppen:
„Figuren mit Wänden“, „Mensch und Maß“, „Torsi“,
„Gewandfiguren“, „Männer“ und „Alte Männer“, „Zeitgenossen“
Eva II, 1965 - 1966, Bronze, Höhe: 103 cm
größere Fassungen (der kleinen Werkabbildungen)
auf die Bilder klicken |
Mann aus der Enge heraustretend, 1971/72, Bronze, Höhe: 300
cm
Großer bekleideter Mann zwischen Wänden, 1973, Bronze, Höhe:
300 cm
Mann im Gerüst, 1970, Bronze, Höhe: 269 cm
In der Werkgruppe „Figuren und Torsi mit Wänden“ befasste
sich Waldemar Otto in den siebziger Jahren mit dem Problem
des Verhältnisses von Figur und Raum. ein generelles Problem
dreidimensionaler Kunst, Otto bemisst den Raum eng, der
Mensch muss sich aus diesem befreien. Der Mann
durchschreitet die Tür, der Mann ist bedrängt durch die
Wände usw. Otto lädt das formale Thema Figur und Raum
inhaltlich auf, indem er es sozial determiniert.
Gedrehter Torso XVIII, 1994 Bronze, Höhe: 53 cm
Kleiner männlicher Torso, 1993, Bronze, Höhe: 20,5 cm
Weiblicher Torso XXI, 1998, Bronze, Höhe: 66 cm
Mit der Werkgruppe der „Torsi“, 1993 bis 1998, entdeckte
Waldemar Otto für sich das Modellieren mit den vier bis fünf
Zentimeter starken Wachsplatten, die für das
Wachsauschmelzverfahren beim Bronzeguss verwendet werden.
Durch die Handwärme geschmeidig gemacht, durch Drücken oder
Ausbuchten erzeugt er auf knappste Weise die Wölbungen
menschlicher Körper. Die Torsierung wird hier zur
Quintessenz des Körperlichen an sich.
Doch die Volumina gewinnen unvermutete Spannungen:
– ein leichter Knick erreicht die Dimension eines Zweifels,
– eine leichte Drehung im Körper die Größe einer
grundsätzlichen Infragestellung,
– und eine leichte Achsenverschiebung wird ein Zurückweichen
vor dem Kommenden.
Feinste menschliche Regungen kann er so mit knappsten
Mitteln sichtbar machen.
Figur mit Gewand IX, 2004, Höhe: 102 cm
Figur mit Gewand VI, 2003, Bronze, Höhe: 56 cm
Figur mit Gewand XXIII, 2004, Bronze, Höhe: 62 cm
Auf die Torsi folgten die „Gewandfiguren“. Das Spiel
zwischen Körper und Gewand hat in der bildenden Kunst eine
lange Tradition. Deren Werke gewinnen aus einem voyeurhaften
Blick durch das Gewand auf den Körper ihre Erotik.
Waldemar Otto dagegen verhüllt den Körper gänzlich. Er ist
lediglich durch das Gewand zu spüren, aber nicht zu sehen.
Seine Gewandfiguren zielen auf eine große geschlossene Form,
voller Harmonie, befreit von allen Zwängen, ausgeglichen und
melodisch.
Und die Gewandfiguren wären nicht von Waldemar Otto, wenn
zum Schluss nicht nur noch das Gewand selbst stehen bliebe.
Aber welche Sinnlichkeit des weiblichen Körpers strahlen
diese puren Gewänder noch aus!
Mann stehend II (Singender), 2006, Bronze, Höhe: 60 cm
Moltanteser Bürgermeister, 2005, Bronze, Höhe: 38,5 cm
Mann mit der Flasche, 2006, Bronze, Höhe: 45 cm
Nach „Glorifizierung“ des verhüllten weiblichen Körpers
wendet sich Waldemar Otto den Männern zu. Aus ihnen spricht
eine feine Beobachtung menschlichen Gebarens. Gerade bei den
Männerfiguren ist deren Habitus von Bedeutung. „Redender“,
„Raucher“, „Singender“, „Mann mit der Flasche“ oder
„Bürgermeister“ sind durch charakteristische Körperhaltungen
gezeichnet. Männer charakterisieren sich wohl eher durch
ihren Habitus, weniger durch ihr Make-up. Waldemar Otto weiß
diesen Habitus plastisch zu erfassen und kann lächeln über
die Männer.
Vielleicht war es die Überwindung seiner langen schweren
Krankheit, die ihn von den Männern zu den alten Männern
führte. Für diese erfindet er die konkave Plastizität, die
sich nach innen wölbt, nicht in den Raum hinein.
Alter Mann II, 2008, Bronze, Höhe: 60 cm / Alter Mann und
Hund, 2008, Bronze, Höhe: 33 cm

Sitzender Alter, 2008, Bronze, Höhe: 18 cm
Die alten Männer prahlen nicht, sie sind in ihrer
Zurückgenommenheit einfach da und in der versöhnlichen
Gelassenheit des Alltäglichen schwingt eine feine Nuance von
Ironie.
Sitzende Iphigenie VI, 2010, Bronze, Auflage 12, Höhe: 20 cm
Nereus, 2000, Bronze, Auflage 15, Höhe: 14,5 cm
Kleine Aphrodite, 1986 - 88, Bronze, Auflage: 12, 29 x 9 x 6
cm
Mit Agamemnon, Iphigenie, Bachus, Nereus und Aphrodite nutzt
Waldemar Otto auch gerne die Symbolkraft der Mythologie, um
auf eine weitere Spielart Ottos im Umgang mit dem Stoff zu
verweisen.
Verwiesen sei noch auf Ottos Engagement für figurative
Lösungen des Einheits- und Freiheitsdenkmal in Berlin und in
Leipzig, an beiden Wettbewerben hat er sich mit großem
Engagement und Einsatz, trotzt seines inzwischen hohen
Alters beteiligt. Mit großer Intensität und
leidenschaftlicher Hingabe hat er in diese Wettbewerbe
investiert und mit Worten gestritten.

Szenario Nicolaikirche Leipzig, 2012, Bronze, 20 x 74 x 25 cm
Seine bildhauerischen Lösungen stellen jene Menschen in den
Mittelpunkt der plastischen Ensembles, die im Herbst 1989
das gesellschaftliche System in der DDR zum Einsturz
brachten.
Doch der Mainstream entschied sich für die „Wippe“ in Berlin
und die Apfelplantage“ in Leipzig, die nun allerdings nicht
realisiert wurde.
Mit diesem Mainstream im Kunstbetrieb setzte sich Otto in
seiner Werkgruppe „Zeitgenossen“ auseinander.
Leichnam des Propheten, Bronze, Höhe: 46 cm /
Der Kurator, Bronze, Höhe: 30,3 cm / Sakrileg,
Bronze, Höhe: 66 cm
Darunter ist die köstliche Plastik »Sakrileg«. Waldemar Otto
hat sich maßstabsgerecht das berühmte Urinal von Marcel
Duchamp aus dem Jahre 1917 aus Porzellan nachbauen lassen
und stellt davor eine in dieses Heiligtum pinkelnde Figur,
sich dabei genussvoll im Spiegel betrachtend.
Das Pissoir von Duchamp und die Fettecke von Beuys haben in
der Folge Kunstverständnis und Kunstbetrieb entscheidend
verändert.
In dieser Werkgruppe zeigt Waldemar Otto seine karikative
bis bissige Seite.
Kurz vor der Vernissage seiner Ausstellung zum 90.
Geburtstag im stilwerk Berlin schuf Waldemar Otto die
Plastik „Merzwaage“.

Merzwaage, 2019, Bronze, Höhe: 20 cm
Die „Merzwaage“ stellt das Übergewicht des Kapitals
gegenüber den Interessen von Arbeitern und Rentnern dar. Auf
dem kürzeren Ende der Wippe, die am Boden haftet, sitzt
Friedrich Merz und auf dem längeren Teil verhungern oben die
Arbeiter und die Rentner. „Verhungern lassen“ nennen es die
Kinder, wenn sie dem Gegenüber auf der Wippe nicht mehr
herunterwippen ließen und dieser sich nicht traute von oben
herunterzuspringen.
Sicher eine eher narrative-agitatorische Zielsetzung für
eine Plastik, aber das gehört eben auch zu jenen Werken, mit
denen Otto an die Grenzen der Bildhauerei ging. Merz als
Bundeskanzler hat er nicht mehr erlebt.
Sehr geehrte Damen und Herren,
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ich hoffe, Sie hatten Freude an dem Überblick
über die vielen Plastiken, die Waldemar Otto
geschaffen hat.
Doch die wichtigsten Arbeiten hat er für den
öffentlichen Raum in vielen deutschen Städten
geschaffen.
Dabei hat er ganz unterschiedliche Wege
beschritten, viele plastische Möglichkeiten
untersucht, um seine Kunst inhaltlich wirken zu
lassen, figürlich detailliert bis fast abstakt
in der großen Form, mit vielen Variationen
dazwischen hat er seinem ganz eigenem
Formencanon geprägt.
Er war ein entschiedener Vertreter einer
figurativen Bildhauerei, die auf den
Formerfahrungen des 20. Jahrhunderts basiert.
Das Bild vom Menschen trägt sein Werk, es macht
sichtbar, was man nicht sehen kann.
Grabstätte Waldemar Ottos in Worpswede |
In Kürze werde ich Ihnen aus dem Nachlass wieder einige
Plastiken von Waldemar Otto anbieten können. Ein bisschen
Geduld ist noch nötig. Vorfreude ist auch schön.
Ich wünsche Ihnen noch angenehme Frühlingstage und verbleibe
mit herzlichen Grüßen
Ihr Wilfried Karger |